Pure Selbstverteidigung!

Es hat Zeiten gegeben, in denen ich mich voller Selbstmitleid und Verzweiflung gefragt habe: Warum muss ich mir von morgens bis abends den Hals wund schreien - und es hört trotzdem keiner auf mich? Jedenfalls nicht in dem Irrenhaus, in dem ich seit 23 Jahren als Mutter tätig bin.
Es hat Zeiten gegeben, da war ich abends dankbar, dass meine Halsschlagader auch diesen Tag wieder überlebt hat, ohne zu platzen.
Es hat auch Zeiten gegeben, in denen mein Grundnahrungsmittel ein Eukalyptusbonbons war und ich nicht mal mehr um Hilfe hätte schreien können, wenn die Kinder, die ich im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten ausgetragen habe, mich geknebelt, gefesselt und gefoltert hätten.

Dem Himmel sei Dank, diese Zeiten sind vorbei, seit ich die glorreiche Idee mit den vielen, kleinen Zettelchen hatte.
Auf dem Kühlschrank klebt seither ein Schreiben folgenden Inhalts:
1)Der Kühlschrank wird nicht voller, je länger man hineinschaut.
2)Leere Eierkartons und leere Limoflaschen füllen sich nicht von alleine auf, wenn sie im Kühlschrank stehen bleiben.
3)Butter und Käse haben keine Beine und keine Flügel, sie müssen infolgedessen vom Benutzer wieder
zurückgestellt werden.
4)Wird die Kühlschranktüre zwischen 22 Uhr und 6 Uhr geöffnet, springt ein Geist heraus, der kleine Kinder frisst.

Über der Waschmaschine hängt ein Plakat , 2 m x 2 m groß, auf dem zu lesen ist:
1)Socken, in denen man die Zehen nicht mehr bewegen kann, gehören in die Schmutzwäsche.
2)Die einzige Bodendekoration in diesem Raum sind Badematten. Nasse Handtücher und schmutzige Unterwäsche taugen nicht als Verschönerungsmaßnahme.
3)Falls die Hosen, die ihr auszieht, von alleine stehen bleiben, stellt sie bitte ganz vorsichtig an die Wand. Nicht wieder anziehen!!!!!

Was soll ich sagen? Es funktioniert. Nicht immer, aber immer öfter.
Mein Ältester (23) zeigte zwar leichte Zeichen von Unmut, als er aus der Schule kam und sah, was ich in großen Druckbuchstaben mit Filzstift über seinem Bett auf die Tapete gemalt hatte:
1)Essensreste, die länger als 2 Wochen an der gleichen Stelle stehen, warten nicht auf den Friseur, sie müssen entsorgt werden.
2)Die Kleider unter deinem Bett, in denen Gr. 104 steht, passen dir seit 18 Jahren nicht mehr.
3)Bevor die leeren Hamburger- Verpackungen eine feste Verbindung mit deinem Teppich eingehen, wirf sie lieber weg.

Das konnte ich so gerade wieder hinbiegen. Aber das Problem an der Sache ist, ich kann nicht mehr damit aufhören, Zettel zu schreiben.
Ernste Bedenken kamen mir, als ich am Aquarium neulich folgenden Hinweis entdeckte, zweifellos in meiner Handschrift:
1)Euer Futter steht im Küchenschrank über der Spüle.
2)Bitte zweimal die Woche frisches Wasser nehmen. Ihr seid jetzt alt genug dazu.
3)Und wenn euch das nicht passt, lernt gefälligst zu sprechen.
Gott sei Dank kam ich zur Besinnung, bevor die armen Fische mit dem Bauch nach oben schwammen.

Neulich abends, ich war gerade dabei ein Schreiben in Herzform ans Baby- Bett zu nageln:
1)Alle Kinder schlafen nachts!
2)Versuch du es doch auch mal!,
beobachtete mein Mann mich nachdenklich. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er kopfschüttelnd den Raum verließ.

„Ja, ist ja gut, ich hab den Tesafilm halt nicht gefunden. Nun reg dich doch nicht gleich so künstlich auf!“
„Ich rege mich überhaupt nicht auf, ich hab nur langsam das Gefühl, ich bin mit einer Verrückten verheiratet.“

Zwei Tage später!
Wir liegen im Bett, mein Göttergatte kuschelt sich zärtlich an mich. Da fällt mir plötzlich was ein. Ich renne in die Küche, nehme eines von diesen selbsthaftenden Notizzettelchen und kritzele in wilder Hast darauf:
1)Ich mag keine schnarchenden Ehemänner.
2)Solltest du auch diese Nacht wieder schnarchen, ziehe ich um. Aber nicht ins Wohnzimmer, sondern auf einen anderen Erdteil.
Zugegeben, vielleicht hätte ich ihm diese Drohung nicht mitten auf die Stirn pappen sollen.
Vielleicht bin ich ein ganz kleines bisschen zu weit gegangen.
Er schaut mich mitleidig an und sagt:
"Liebling, ich glaube, wir müssen einen Facharzt aufsuchen. Dieser irrwitzige Drang, Zettelchen zu schreiben, nimmt langsam Formen an, die psychotisch sind."
Spricht es und entsorgt alles, was auch nur im Entferntesten an Kulis, Bleistifte, Filzstifte, Papier, Blöcke, Hefte oder sonstige Schreibutensilien erinnert.

Nachts treffen mich die ersten Entzugserscheinungen bereits mit voller Wucht. Meine Hände fangen an zu zittern, um meinen Mund nehme ich unkontrollierbare Zuckungen wahr und mein Herz schlägt so wild und laut, dass ich Angst habe, alle Haustiere im Umkreis von 18 km aufzuwecken. Ich nehme mir fest vor, morgen zu den "anonymen Zettel- Schreiberinnen" zu gehen. Alleine komme ich von dieser Sucht nicht mehr los. Ich muss mir ein anderes Hobby suchen.

Vielleicht fange ich morgen mit dem Trinken an.